„Kann man zu viel fühlen, zu viel wissen, zu viel über sich selbst nachdenken?“
Es überrascht mich immer wieder, wie schnell ich mich verliere, wenn ich denke, dass ich mich „verstehen“ muss.
Ich stelle das besonders dann fest, wenn ich zu lange still sitze, aber nur im Kopf. Nach einem intensiven Gespräch, einem vollen Tag mit vielen Fragen, zu vielen kurzen Videos bei Youtube. Oder nach Momenten, in denen mein Nervensystem eigentlich nach Berührung, Bewegung, Wärme ruft… und ich stattdessen ein neues Notizbuch aufschlage.
Mehr Stille bedeutet mehr Wahrheit, immer.
Aber nicht die Stille des Denkens. Sondern die des Körpers.
Ich sehe es im Kleinen immer wieder:
Wenn ich meine Füße in feuchte Erde grabe, die Augen schließe und drei bewusste Atemzüge nehme, dann setzt sich etwas in mir.
Dann höre ich endlich auf, über mich nachzudenken – und beginne, mich zu spüren.
Ich fühle mich weiter, ruhiger, weniger zersplittert.
Fast so, als hätte ich mich selbst wieder eingesammelt.
Und natürlich gilt das auch im Großen.
Es ist so leicht, in die Falle zu tappen und zu glauben, dass wir alles lösen können, wenn wir nur lange genug darüber nachdenken.
Dass Erkenntnis die einzige Tür zur Heilung ist.
Aber manchmal – oder eigentlich oft – ist genau das Gegenteil wahr:
Zu viel Nachdenken trennt uns vom Körper, von der Welt, vom Jetzt.
Das kann Minuten dauern. Oder Jahre.
Oder ein ganzes Leben, das sich wie ein Irrgarten anfühlt, obwohl es in Wahrheit nur ein Kreis ist – mit dir im Mittelpunkt.
Ich weiß, dass es für jede:n anders ist, aber für mich gilt:
Je mehr ich mir wünsche, tiefer zu leben, klarer zu sehen, verbunden zu sein –
desto mehr muss ich loslassen.
Weniger analysieren.
Weniger überreflektieren.
Mehr im Hiersein aufgehen.
Früher habe ich versucht, das zu bekämpfen. Ich wollte schlau sein, reflektiert, bewusst.
Ich dachte, das sei der Weg.
Aber irgendwann habe ich verstanden:
Bewusstsein ohne Erdung wird zur Falle.
Der Verstand will Kontrolle – der Körper will Sicherheit.
꩜
Überreflexion ist oft kein Zeichen von Tiefe – sondern von Schutz.
Aus Sicht der Traumaforschung ist sie manchmal ein leiser Schrei des Nervensystems:
„Ich kann noch nicht loslassen. Ich muss alles durchdenken, sonst passiert es wieder.“
Ein Ausdruck von Hypervigilanz, von innerer Alarmbereitschaft.
Neurobiologisch betrachtet arbeitet dann das sogenannte Default Mode Network auf Hochtouren – es kreist um Erinnerungen, Möglichkeiten, Sorgen. Das ist nicht „falsch“. Aber es ist auch kein Ort zum Ausruhen.
In der Ergotherapie nennen wir das: eingeschränkte Handlungskompetenz.
Das Denken löst sich vom Tun.
Die Spirale beginnt.
Und während wir hoffen, endlich zu einer Antwort zu kommen, entfernen wir uns immer mehr vom Körper.
Vom Jetzt.
Vom Gefühl, dass vieles schon da ist.
꩜
Also eine Erinnerung für dich – und für mich:
Du musst nicht alles verstehen, um weiterzugehen.
Du darfst fühlen, ohne zu analysieren.
Du darfst ruhen, ohne etwas zu lösen.
꩜
Überreflektiertsein ist oft ein Schutzmechanismus. Es kann aus Trauma, Stress, hoher Sensibilität oder fehlender Erdung entstehen. Die Forschung zeigt, dass Regulation und Heilung nicht primär im Denken, sondern über den Körper und sichere Beziehungserfahrungen erfolgen.
Auch in der Achtsamkeitsszene wächst das Bewusstsein dafür, dass zu viel Innenschau und Selbstanalyse auch erschöpfend sein kann.
Schattenarbeit, Human Design, Persönlichkeitsmodelle, Journaling – all das hat seinen Platz. Aber nur, wenn es uns nicht in einer mentalen Dauerschleife gefangen hält.
Denn: Erkenntnis ist nur dann heilsam, wenn sie auch im Körper ankommen darf.
Und genau aus diesem Grund liebe ich meine Arbeit als Ergotherapeutin:
Weil ich Menschen dabei begleiten darf, aus dem Gedankenkarussell wieder in den Körper zurückzufinden – in die Handlung, ins Spüren, ins Vertrauen.
Dorthin, wo echte Regulation geschieht – leise, nachhaltig und oft ganz unspektakulär.
Aber genau dort beginnt Heilung.