Nicht falsch, nur fein

Kein Defekt
von Leah Cox,

von mir frei aus dem Englischen übersetzt. Ein Gedicht für (Hoch)sensible.

Ich war neunzehn und im ersten Jahr an der Uni.
Es war das Ende einer Nacht wie so viele.
Die Tür meines kleinen Einzelzimmers schloss sich hinter mir
und eingeschlossen in der Sicherheit dieser Wände
sank ich langsam
zu Boden
und weinte.

Als nichts mehr übrig war
als eine trockene Salzkruste um meine Augen,
schlief ich ein – erschöpft
von einem weiteren Tag, verwirrt vom Leben
und meinem Platz darin, den ich einfach nicht zu finden schien.

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Ich war mitgegangen, wie immer,
in den Club, in den „alle gingen“.
Unbeholfen stand ich da,
ein Getränk in der Hand, das ich nicht wollte,
aber zu ängstlich, um ohne die trügerische Sicherheit von irgendetwas,
von irgendetwas,
da zu stehen –
als könnte mich dieses Glas irgendwie vor der Nacht retten.

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Zu viel Lärm.
Zu viele Menschen.
Ich wagte es nicht zu tanzen.
Und trotzdem
stand ich
und lächelte
und nickte verständnisvoll,
wenn mir jemand etwas ins Ohr schrie,
in Ohren, die später noch lange in die leere Nacht hinein rauschten.

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Meine Tränen waren Tränen der Verwirrung,
der Selbstverachtung
und der Wut auf das Leben.
Mir hatte nie jemand gesagt,
ich hatte nie gelernt,
dass meine hohe Sensibilität kein Defekt war,
sondern eine göttliche Gabe,
die –
richtig verstanden –
zu unermesslich Gutem genutzt werden kann.

Tatsächlich
hatte ich meine Sensibilität nie als das erkannt, was sie war –
nur dieses durchdringende Gefühl von Traurigkeit
und das Empfinden,
falsch zu sein.

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Ein weiteres Jahrzehnt musste vergehen,
bis ich schließlich begann, zu verstehen,
und ich lernte,
langsam, ganz langsam,
mir selbst die Erlaubnis zu geben,
die andere mir nie hatten geben können:

dass es in Ordnung war –
ja, sogar wünschenswert –
ich selbst zu sein.
Die Stille zu lieben,
die Einsamkeit,
die Stunden voller Reflexion und Suche,
immer auf der Suche nach einem tieferen Verständnis dieses Lebensgeheimnisses.

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Ich habe mich immer nur danach gesehnt,
ich selbst zu sein
und die Welt so zu teilen, wie ich sie sehe und fühle –
die Hand auszustrecken zu all jenen, die noch nicht wissen,
dass ihre hohe Sensibilität kein Defekt ist,
sondern eine göttliche Gabe,
die –
richtig verstanden –
zu unermesslich Gutem genutzt werden kann.